Bilder vom "Zigeuner" in rechtssprachlichen Quellen und ihre Darstellung im "Deutschen Rechtswörterbuch".

Dr. Ulrich Kronauer / Deutsches Rechtswörterbuch / Heidelberger Akademie der Wissenschaften

[Druck in: Anita Awosusi (Hrsg.), Stichwort: Zigeuner. Zur Stigmatisierung von Sinti und Roma in Lexika und Enzyklopädien [= Schriftenreihe des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma Band 8], Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 1998, S. 97-118]

Zum Entwurf eines Wortartikels "Zigeuner"

Das Deutsche Rechtswörterbuch ist das "Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache". Vor ziemlich genau einhundert Jahren, 1896/97, von der damaligen Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin begründet, wurde es von Anfang an in Heidelberg geschrieben. In den fünfziger Jahren hat die Heidelberger Akademie der Wissenschaften das monumentale Werk übernommen. Aus insgesamt 2,2 Millionen Archivzetteln wurden bisher neun Bände erarbeitet, insgesamt sind sechzehn Bände geplant. Im Moment (Frühjahr 1998) wird in der Forschungsstelle "Deutsches Rechtswörterbuch" die P-Strecke geschrieben.(1) Bis der Buchstabe "Z" und damit auch das Stichwort "Zigeuner" bearbeitet werden können, wird also noch geraume Zeit vergehen. Wahrscheinlich wird man, etwa um das Jahr 2030 herum, im sechzehnten Band den Artikel "Zigeuner" finden.
 

Im Folgenden wird es also nicht darum gehen, einen Wörterbuchartikel zu beurteilen, den es schon gibt, sondern darum, zu überlegen, wie man einen solchen Artikel schreiben könnte, und zwar unter den Voraussetzungen, die beim Deutschen Rechtswörterbuch gegeben sind. Dieses Wörterbuch enthält keine Sachartikel, wie etwa das Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte,(2) sondern es stellt die Geschichte eines Rechtswortes oder auch eines Wortes mit deutlich erkennbaren rechtlichen Bezügen dar, indem es in chronologischer Reihenfolge möglichst viele und sprechende Quellenbelege zu diesem Wort ausbreitet, nicht ohne eine knappe, prägnante Erklärung voranzustellen. In den Fällen, in denen ein Artikel untergliedert wird, werden selbstverständlich auch den Untergliederungen Erklärungen vorangestellt. Ein Artikel im Deutschen Rechtswörterbuch ähnelt in seiner Gestalt am ehesten einem solchen aus dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm.(3) Als eine Ergänzung zu diesem Wörterbuch war das Deutsche Rechtswörterbuch ursprünglich gedacht.
 

Die Basis für die Gestaltung der Wörterbuchartikel bildet das bereits erwähnte, alphabetisch geordnete, umfangreiche Archiv. Die dort gesammelten Archivzettel enthalten in erster Linie Hinweise auf Quellenbelege eines Wortes, aber auch auf Sekundärliteratur. Zu den etwa 8000 Quellen des "Deutschen Rechtswörterbuchs" gehören nicht nur Rechtstexte im engeren Sinne, sondern z.B. auch Chroniken, literarische, religiöse und philosophische Texte oder allgemein kulturhistorische Schriften, sofern sie einen Bezug zur Sphäre des Rechts haben. Unter dem Stichwort "Zigeuner" finden sich 60 Zettel. Dies ist eine relativ geringe Zahl, wenn man bedenkt, daß es inzwischen eine umfangreiche Literatur zum Thema mit einer Fülle von Quellenzitaten gibt.(4) Dabei ist aber dreierlei zu berücksichtigen: Als Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache hat das Deutsche Rechtswörterbuch nur Quellen bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts ausgewertet. Der Artikel "Zigeuner" wird voraussichtlich mit einem Quellenzitat von 1805 enden. Weiterhin hat man über einen langen Zeitraum ins Deutsche Rechtswörterbuch keine Fremdwörter aufgenommen. Das Wort "Zigeuner" wurde also von den Exzerptoren nicht immer berücksichtigt. Und schließlich hat sich das Interesse an der Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland vor allem in den letzten Jahren in einer Fülle von umfangreichen Studien niedergeschlagen. Gerade in jüngerer Zeit wurde aber unter dem Gebot der zügigen Produktion im Deutschen Rechtswörterbuch nur noch sehr zurückhaltend exzerpiert. Die Einführung und Weiterentwicklung der EDV hat es andererseits aber auch mit sich gebracht, daß in der Datenbank des Deutschen Rechtswörterbuchs zusätzliche Recherchen zu den jeweiligen Begriffen angestellt werden können.
 

Dieser Blick in die Werkstatt kann ein grundsätzliches Dilemma des Lexikographen verdeutlichen: Er steht unter Zeitdruck und muß sich in erster Linie auf das ihm vorliegende Material stützen. Nur in den seltensten Fällen und aus besonderem Anlaß hat er die Muße, sich im Rahmen seiner Dienstverpflichtungen eingehender mit einem Thema zu beschäftigen. Dennoch reichen in der Regel lexikographische Bildung, Zeit und Material aus, um die Geschichte eines Rechtswortes adäquat darzustellen, zumal die ausgewählten Quellenzitate für sich sprechen und den Gegenstand plastisch hervortreten lassen. Im Falle eines für das Deutsche Rechtswörterbuch zu schreibenden Artikels "Zigeuner" gelten aber besondere, vielleicht sogar einzigartige Bedingungen. Diese Bedingungen erfordern besondere Umsicht und gesteigerte Aufmerksamkeit. Es genügt nicht, das gesammelte Quellenmaterial vorzustellen und von seinem Inhalt aus das Stichwort "Zigeuner" zu charakterisieren.
 

Zum Vergleich sei ein Rechtswörterbuch des 18. Jahrhunderts herangezogen. Im "Juristischen Hand-Buch" Georg Stephan Wiesands von 1762, in dem die "Teutschen Rechte sowohl der alten als neueren Zeiten aus ihren Quellen hergeleitet" werden, wird dem Quellenzitat zum Artikel "Zigeuner" folgende Erklärung vorangestellt:

"Zigeuner ... werden in denen Gesetzen Verräther, Ausspänner und verbannete Leute genennet, die nirgends einige Sicherheit oder Schutz finden, nirgends aber geduldet werden sollen".(5)
 

Es folgt ein ausführliches Zitat aus der Reichspolizeiordnung zu Augsburg vom Jahr 1548, in der es heißt, man habe "glaublich anzeyg ... das sie erfarer, verrether, unnd ausspeher sein, und die Christen Landt, dem Türcken, und andern der Christenheyt Feinden verkundschafften." Wiesand stellt im Anschluß fest: "Hiermit stimmen alle Verordnungen in Teutschland überein", und er verweist auf die Schleswig-Holsteinische Landgerichtsordnung, die Tiroler Landordnung, auf bairische, pfälzische und chursächsische Ordnungen. Wiesands Ausführungen sind insofern korrekt, als sie nur das wiedergeben, was tatsächlich aus den Gesetzen hervorgeht. Im Vergleich mit dem umfangreichen, überaus polemischen Artikel "Ziegeuner" in Zedlers Universallexikon im Band 62 von 1749(6) kann man Wiesands Artikel nachgerade als 'sachlich' bezeichnen, auch wenn seiner Erklärung ein aus heutiger Sicht unhaltbarer Verdacht den Zigeunern gegenüber zugrundeliegt. Schon deshalb dürfte man ihn so in einem Rechtswörterbuch heute nicht mehr schreiben.
 

Das Problem, mit dem 'sachliche' Darstellungen des Bildes, das die Quellen von den Zigeunern geben, heute konfrontiert sind, kann der Artikel "Zigeuner" im Deutschen Wörterbuch verdeutlichen, der siebeneinhalb Spalten umfaßt.(7) Der rechtliche Aspekt wird im vierten Hauptpunkt behandelt. Die Belege stammen, mit Ausnahme eines Gottsched-Zitats, aus österreichischen und bairischen Weistümern. Die Erklärung lautet:

"die anfängliche duldsamkeit gegen die Zigeunerhorden wich bald der abweisung; eine anzahl belege aus dem 17. und folgenden jahrh. seien als zeugnis behördlicher masznahmen gegen sie angeführt".
 

Der Begriff "Zigeunerhorde" hat heute einen negativen Beiklang. Im Deutschen Wörterbuch wird er erklärt mit "umherziehende Zigeunerschar". Dies klingt unverfänglich. Neben literarischen Belegen findet sich aber auch folgendes Zitat aus dem zweiten Teil
von Avé-Lallemants Buch "Das deutsche Gaunerthum" von 1858:

"bis zur mitte des 19. jahrhunderts (hat) mit ausschlusz der frei umherziehenden Zigeunerhorden, weit über eine million professionirter gauner in Deutschland existirt."(8)
 

Bei der zitierten Erklärung aus dem Artikel "Zigeuner" klingt in den "Zigeunerhorden" der Bezug zum Gaunertum an und die "anfängliche Duldsamkeit" erscheint als Nachsicht gegenüber einem von vorneherein kritikwürdigen Verhalten der Zigeuner. Immer dann, wenn man versucht, in den Erklärungen nur den Geist bestimmter Rechtsquellen wiederzugeben, die sich auf Zigeuner beziehen, schleicht sich ein polemischer Unterton ein, der, spätestens nach den Erfahrungen des "Dritten Reichs", unbedingt hätte vermieden werden müssen. Auch im Deutschen Rechtswörterbuch erweist sich bei der Behandlung einer im Hitlerdeutschland, und nicht erst dort, verfolgten Minderheit die vermeintliche Objektivität als problematisch, wird nachgerade zur Falle. Sicherlich hat man den Artikel "Jude" mit der geschärften Aufmerksamkeit konzipiert, die oben erwähnt wurde. Er umfaßt dreizehneinhalb Spalten und steht im sechsten Band des Deutschen Rechtswörterbuchs, dessen Hefte von 1961 bis 1972 erschienen sind. Die Erklärungen zu den einzelnen Haupt- und Nebengliederungspunkten sind knapp gehalten und beschreiben, mit einer Ausnahme, rechtsrelevante Fakten aus der Geschichte der Juden in Deutschland. Diese Ausnahme findet sich im dritten Hauptgliederungspunkt: "im Strafrecht" als fünfter Unterpunkt: "Kindesentführung durch Juden u. Ritualmord". Die beiden angeführten, drastischen Belege handeln von der Möglichkeit bzw. dem Verdacht, Juden würden Christenkinder entführen, töten und ihr Blut für rituelle Zwecke verwenden. Hier wechselt der Lexikonartikel unversehens und ohne dies kenntlich zu machen von der Ebene, auf der Sachverhalte beschrieben werden, die tatsächlich in der Rechtswelt vorgekommen sind oder die sich hätten ereignen können, auf die Ebene des Aberglaubens und der böswilligen Verdächtigungen. Selbstverständlich gab es das Gerücht vom Ritualmord, mit schrecklichen Folgen für die Juden. Der Lexikonartikel hätte aber doch zum Ausdruck bringen müssen, daß es sich eben nicht um ein Faktum, sondern um ein "Judenbild" handelt.
 

Wenn die der Abfassung eines Artikels "Zigeuner" im Deutschen Rechtswörterbuch zugrundeliegenden Bedingungen oben als 'einzigartig' beschrieben wurden, dann deshalb, weil sich kein gleichgelagerter Fall finden läßt. Am ehesten kommt der bereits erwähnte Artikel "Jude" in Betracht, zumal in den Rechtsquellen Juden und Zigeuner bisweilen nebeneinander gestellt werden. Aber während dieser Artikel mit Gliederungspunkten beginnt, die Rechte wie "Landfriedensschutz" , "Geleit", "Bürgerrecht" verzeichnen und damit zu erkennen geben, daß die vorwiegend diskriminierte Minderheit der Juden dennoch bis zu einem gewissen Grad in ihrer christlichen Umgebung rechtlichen Schutz genoß, geht es bei Bestimmungen zu den "Zigeunern" in erster Linie darum, ihnen diesen Schutz abzusprechen. Und während der Artikel "Jude" auch Informationen liefert über "Einrichtungen im Rahmen der jüdischen Selbstverwaltung, Gericht und sonstige Berechtigungen", findet man hierüber in Rechtsquellen zur Geschichte der Zigeuner in Deutschland so gut wie nichts. Die wenigen Informationen, die es vor dem 18. Jahrhundert gibt, leiten sich vom Hörensagen her oder von über die Jahrhunderte tradierten, keineswegs durch den Augenschein o. ä. überprüften 'Zigeunerbildern'.(9) Wie die "Zigeuner" genannten Menschen miteinander leben, was sie von sich und ihrer Umwelt denken, welches Rechtsempfinden sie haben, bleibt weitgehend unbekannt. Dieser Mangel an Information hindert diejenigen, die über die Zigeuner urteilen, die Verordnungen erlassen und die gegen die Zigeuner vorgehen, keineswegs, sich an einem bestimmten Bild von "dem Zigeuner" zu orientieren. Dieses Bild kann sich sogar von der Menschengruppe, die am Anfang des 15. Jahrhunderts auf dem Gebiet des Deutschen Reichs aufgetreten ist und die schon bald danach andauernden Verfolgungen ausgesetzt war, ablösen. Ein Beispiel dafür findet sich in dem bereits erwähnten Artikel "Ziegeuner" in Zedlers Universal-Lexikon von 1749:

"[ ... ] heut zu Tage ist mehr als zu bekannt, daß diese Ziegeuner nichts anders seyn, denn ein zusammen gelauffenes böses Gesindel, so nicht Lust zu arbeiten hat, sondern von Müßiggang, Stehlen, Huren, Fressen, Sauffen, Spielen u. s. w. Profeßion machen will. Es finden sich hierbey abgedanckte und desertirte Soldaten, liederliche Bedienten und Handwercks-Pursche, die ihren Herren und Meistern nicht wollen gut thun, ungerathene Söhne, die ihren Eltern entlauffen, solche Weibes-Vetteln, die den Staupenschlag erhalten, und sich sonst weder durch Kuppeln noch Huren etwas mehr verdienen können."(10)
 

Der Artikelschreiber gerät hier in einen Widerspruch mit seinen eigenen Ausführungen. Denn drei Spalten zuvor hatte er noch geschrieben:

"Einige wollen die Ueberbleibsel der Zigeuner nur für einen zusammen gelauffenen Haufen von Dieben, Mördern, Spitzbuben und andern losen Gesindel halten, die sich nach dem Abzug der Zigeuner zusammen rottiret, und für Zigeuner ausgegeben. Nun ist nicht zu leugnen, daß sich allerhand loses Gesindel zu ihnen mag gesellet haben, welches sie auch willig aufnahmen, und ihnen die schwartze Farbe durch allerhand Schmierereyen zu geben wusten, damit sie nicht mögten erkannt werden. [ ... ] Bey dem allen aber ist doch ausser Zweifel, daß viele würckliche Zigeuner im Lande geblieben, zu welchen sich allerhand ruchloses Volck geschlagen hat."(11)
 

Der offensichtliche Widerspruch zwischen der Aussage, die Zigeuner seien nur ein "zusammen gelauffenes böses Gesindel" und der vorher gemachten Äußerung, es gäbe durchaus noch "würkliche Zigeuner", zu denen sich "ruchloses Volck geschlagen" habe, mag dem Artikelschreiber unterlaufen sein, ohne daß er ihn bemerkt hat. Es ist wohl nicht anzunehmen, er meine, es gebe nur noch 'Zigeunerdarsteller', 'ruchloses Gesindel', das sich das Gesicht schwärzt und eine eigene "Mund-Art" unter sich ausmacht, "damit sie desto fremder scheinen, und einander dasjenige, was zu Beförderung ihrer Absichten dienlich, communiciren können". Die widersprüchlichen Formulierungen lassen aber eine Unsicherheit des Autors erkennen in dem, was er sagen will. Letztlich geht es dem Artikelschreiber wohl darum, das schlechthin Verwerfliche, in seiner Gesellschaft Untragbare, diese Gesellschaft in ihrer Substanz Gefährdende zu kennzeichnen und nennt dies "Zigeuner". Dabei ist es dann garnicht mehr so wichtig, ob dieses Verwerfliche, vielleicht in Form von anthropologischen Konstanten, einem Volk zuzusprechen ist, das seit seinem Auftreten in Deutschland 'die Zigeuner' genannt wird, oder ob ein 'zusammengelaufenes Gesindel', das das Verwerfliche verkörpert, den Anschein erweckt, Zigeuner zu sein.(12) Schon 1590 ist übrigens im fränkischen Recht von einem Gesindel die Rede, "so sich ziegeuner nennen und dafür ausgeben".(13)
 

Unklarheit verbindet sich mit den "Zigeunern" seit ihrem ersten Auftreten in Deutschland. Es umgibt sie eine Aura des Fremden, Geheimnisvollen, Abstossenden, Beunruhigenden. In einem Bericht aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, der sogenannten Rufus-Chronik, wird über den ersten Auftritt eines Volkes, das aus Tartarien kam, berichtet:

"To der sulven tiid [1417] wanderde dorch de land en vromet hupe volkes; desse quemen uthe Tartarien; se weren swart unde eyslik unde hadden myt sik wyve unde kyndere. se toghen dorch de stede unde leghen in deme velde, wente me wolde se in den steden nicht liden umme dat se sere stelen; erer was by 400 unde nomeden sik de Secanen. se hadden under sik vorsten, also enen greven unde enen hartighen; dar worden se van gherichtet, wan se mysdeden. de vorsten der lande hadden en leydebreve gegheven, dat se velich togen, wor se wolden. etlike van en reden; men de meste hupe ghink to vothe. de sake, wor se aldus umme weterden van deme enen lande to deme anderen, was, also men sede, dat se weren van deme loven treden wedder to der heydenschop, unde dar umme was en dat ghesad vor ere penitencien unde scholden dat holden 7 jar."
 

Sie waren schwarz und "eyslik". Das mittelniederdeutsche Wort "eyslik" bedeutet: "häßlich, garstig, ungestalt von Aussehen und Wesen, Furcht, Grauen erregend; 'informis'".(14) Diese Furcht vor den sonderbaren Fremden begleitet die Zigeuner über viele Jahrhunderte. In dem Bericht der Rufus-Chronik sind zum Teil widersprüchliche, zum Teil auf Hörensagen beruhende Informationen enthalten. Sie sollen aus "Tartarien" stammen; in einer lateinischen Vorlage heißt es allgemeiner "de orientalibus partibus", ihr Herumirren wird als Strafe für den Abfall vom rechten Glauben gedeutet. Widersprüchlich, oder zumindest nicht ganz plausibel sind die Behauptungen, daß die Zigeuner einerseits von ihren Fürsten gerichtet würden, wenn sie sich etwas zuschulden kommen ließen, andererseits aber wegen ihres notorischen Stehlens nicht in den Städten geduldet würden. Hatten die Fürsten keinen Einfluß auf das Verhalten ihrer Leute, konnten sie das Stehlen nicht unterbinden, oder wurde dieses Stehlen, zumindest sofern es nicht die Angehörigen des eigenen Volkes betraf, nicht als strafbar erachtet?
 

Auch wenn der "Secanen" genannte "fremde Haufen Volkes" zunächst noch mit Geleitbriefen der jeweiligen Landesherren versehen wurde, was eine Tolerierung zumindest in einem bestimmten Rahmen signalisiert, sind schon am Ende des 15. Jahrhunderts die Bestimmungen eindeutig ablehnend und abweisend. So heißt es in einem Reichsabschied von 1497:

"derjhenen halben, so sich zigeüner nennen, vnd wider vnd für in die land ziehen ... ist geratslagt, nachdem man anzeig hat, daß dieselben erfarer, ausspeher vnd verkuntschaffter der cristen land sein, daß man denselben hinfüro in die land zu ziehen nit gestatten noch leiden soll."
 

Nun wird also auch schon das Stereotyp amtlich reproduziert, die Zigeuner seien Spione und spähten die christlichen Länder aus und zwar in der Regel für die Türken.(15) Obwohl die Zigeuner ihre Kinder taufen ließen und die Patenschaft adliger Herrschaften erbaten und oft auch erhielten, werden sie in den Rechtsquellen häufig als "Heiden" bezeichnet. Die Formulierung des Reichsabschieds, sie 'nennten' sich Zigeuner, deutet wieder auf das Dubiose, Unklare des Phänomens. Generell gilt, und so kommt es in einer Überschrift aus der Bairischen Landordnung von 1553 zum Ausdruck, die Zigeuner seien "unbekannte, argwöhnische (d.h. verdächtige) Leute". Daß sie sich mit "wahrsagen und dergleichen fantaseyen" beschäftigen, wie es für 1577 in den Württembergischen Ländlichen Rechtsquellen heißt, macht die Sache nicht besser, führt vielmehr erst recht dazu, daß sie "in der herschaft nit gedult ... werden sollen". In einer Verordnung von 1587 aus Oberösterreich werden sie zusammen mit den Widertäufern als Sekte bezeichnet, die man nicht beherbergen und für deren Zusammenkünfte man keinen Raum in seinem Haus zur Verfügung stellen dürfe. In einer Basler Verordnung von 1637 heißt es drastisch:

"wöllen wir die ... anstalt machen, daß diejenigen, welche solchen wahrsageren, teufelsbeschweereren und sägneren, wie auch den heiden oder zygineren ... nachlaufen ... als faule nichtswärtige glider von der christlichen kirchen und gemeind abgeschnitten ... werden sollen".
 

Wenn man den Negativgehalt dieser Aussage positiv wendet, erkennt man, daß die Welt und die Künste der Menschen, die Zigeuner genannt wurden, auf die anderen durchaus eine gewisse Anziehungskraft ausübten. Ebenso kann man aus der Häufigkeit der Verbote, Zigeuner zu beherbergen, schließen, daß diese Menschen keineswegs von der Bevölkerung durchgängig nur abgelehnt wurden.
 

In den offiziellen, obrigkeitlichen Verlautbarungen allerdings hält sich die Ablehnung der Zigeuner durch, wobei die Unsicherheit darüber, wie diese Menschen eigentlich leben, ein verschärftes Vorgehen eher noch begründet. Gewiß scheint nur, daß es Heiden sind. Hierzu ein Beispiel aus Hessen von 1656:

"demnach auch hin vnd wieder in den landen leute herumb streichen, so sich heyden oder zygeuner nennen, vnd mit gottlosen ärgerlichen dingen vmbgehen, nemlich mit zauberey, warsagerey, dieberey vnd allerley betrüglichen stücken, weßwegen sie auch bey wolbestelten regimentern im christenthumb vnd vnter den rechtgläubigen keines weges zu hegen, sintemal sie auch den christlichen glauben nicht verstehen noch demselben zugethan seyn, vnd man weder von ihrer geburt noch aufferziehung, leben oder wandel, vielweniger von ihrem ehestande einige gewisse nachricht haben kan, sie auch offenbarlich vnd vngescheuet ihre böse stücke, so dem christenthumb allerdings zuwider seyn, treiben, vnd davon nicht abstehen, weßwegen auch christliche obrigkeiten sie nicht zu dulden, sondern wo sie sich angeben, so bald fort vnd hinweg zu weisen hin vnd wieder angeordnet haben".
 

Man könnte erwarten, daß sich der Ton, in dem die Verordnungen, aber auch die Berichte in Chroniken u.ä. gehalten sind, im Verlauf der Zeit, gewissermaßen im "Prozeß der Zivilisation",(16) mäßigt oder versachlicht. Daß dem keineswegs so ist, hat bereits der Artikel aus Zedlers Universallexikon gezeigt und ließe sich mit vielen Beispielen aus dem 18. Jahrhundert, das ja als das Zeitalter der Aufklärung und Vernunft bezeichnet wird, belegen. Hier seien nur zwei, in besonders rabiatem Ton gehaltene Beispiele angeführt. Das erste Beispiel stammt aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts. Berichtet wird über "Zigeuner-Begebenheiten auf dem Gebiete des ehem. Klosters Schussenried".

"Den 7. Novemb. 1705 hielten die schwäbischen Reichsständ mit Zuzug der Landvogtey wegen dem Zügeinergeschmaiß eine Conferenz, und wurde beschlossen, das jeder Hoch- und Löbliche Stand auf jeden Aufbott die angewiesene wöhrhaffte Männer zum straiffen hergeben solle; Schussenried betraffe es allezeit 12 Mann, und auff einen Mann wurden des tags 20 kr. auß der Cassa bezahlt. Die gefangene Zügainer oder dero Weib und Kinder müessten receßmäßig auf Memmingen geführt werden; diejenige von disem schwarzen Gesindel, welche sich widersetzten, mußten auff der Stell nider gestochen oder nidergesäblet werden, weilen durch das schießen ihnen nit vil abzugewünnen wäre: sie giengen nie weniger dann 20 oder 30 mit einander, und wo sie in ein Dorff oder Weiler kamen, spihlten sie den Meister, triben nebst anderen Lasteren auch öffentliche Abgötterey, waren mithin feuermäßig (d. h. der Feuerstrafe verfallen), doch wäre es schad umb so vil Holz geweßt. Wann mann sie gegen einem Dorff anruckhen sahe, wurde alsobald sturm geschlagen, und also orth zu orth. Auff dise Weiß wurde das Schwabenland in kurzer Zeit von diesen gottlosesten Raubern gesäubert."(17)
 

Diese Schilderung erinnert an das Szenario eines mit Monstren bevölkerten modernen Horrorfilms. Merkwürdige, Abscheu erregende Wesen terrorisieren wie auch immer ein Gemeinwesen, in dem unbescholtene Bürger leben. "Geschmeiß" bedeutet ursprünglich "Unrat" und wird dann, so das Deutsche Wörterbuch, "verächtlich von unnützen oder schädlichen personen" gesagt, "noch verächtlicher als 'gesindel, pack'".(18) Es ist aber keine überlegene, herablassende Verächtlichkeit, mit der hier über die Zigeuner gesprochen wird, sondern eine überaus erregte, ja hysterische Verächtlichkeit. Es sind die "gottlosesten" Räuber - ein selten gehörter Superlativ - die da anrücken und derentwegen die Sturmglocken geläutet werden.
 

Es ist nicht ganz ersichtlich, wie sich die Ereignisebenen zueinander verhalten. Wahrscheinlich soll den Anstoß zu dem Ganzen das verwerfliche Verhalten der Zigeuner gegeben haben, die, insgesamt 20 oder 30 Personen, in einem Dorf oder Weiler einfallen und dort 'den Meister spielen', gewissermaßen die Herrschaft an sich reißen. Vielleicht heißt 'den Meister spielen' aber auch nur, daß die Zigeuner, die in den Quellen häufig als "herrenloses Gesindel" bezeichnet werden, selbst Herren sein und sich keiner Obrigkeit unterordnen wollen (es sei denn einer solchen, die aus ihrem eigenen Volk stammt). Möglicherweise klingt auch das Stereotyp an, die Zigeuner seien notorische Müßiggänger und würden sich der Eingliederung in ein geregeltes Arbeitsleben entziehen. Dieser vermeintliche fundamentale Impuls gegen die bestehenden Normen und die die bürgerliche Gesellschaft konstituierenden Verhaltensmuster macht gerade im 18. Jahrhundert nicht zuletzt das Bedrohliche der Existenz dieser Menschen, die Zigeuner genannt wurden, aus.
 

Vor allem der Vorwurf der "öffentlichen Abgötterei" scheint das Urteil zu rechtfertigen, die Zigeuner seien "feuermäßig". Dabei ist, auch dies sind nur Vermutungen, an die Wahrsagerei der Zigeuner zu denken und an andere magische Praktiken. Wegen solcher Vergehen sind aber Zigeuner oder Zigeunerinnen selten verbrannt worden, zumal nicht im 18. Jahrhundert. Andrerseits ist daran zu erinnern, daß bis weit ins 18. Jahrhundert Hexenprozesse stattgefunden haben. Ganz so ernst scheint es mit dem Brennen der Zigeuner dann doch nicht gemeint, weil es, wie es zynisch heißt, schade um so viel Holz gewesen sei.
 

Die zweite Ereignisebene ist dann offensichtlich die, daß nun in Reaktion auf das Verhalten der Zigeuner ein Aufgebot zusammengestellt wird, um die Zigeuner gefangenzunehmen und nach Memmingen zu verbringen. Sofern sich das "schwarze", unheimliche "Gesindel" bei der Gefangennahme zur Wehr setzt, soll es niedergestochen oder niedergesäbelt werden, weil 'durch das Schießen ihnen nicht viel abzugewinnen wäre'. Noch am Anfang des 18. Jahrhunderts begegnet man also der Vorstellung, die Zigeuner seien gegen Gewehr- oder Pistolenkugeln gefeit. Auch hier wieder drängt sich der Vergleich mit Horrorfilmen auf, in denen die Monstren auf eine bestimmte Art nicht getötet werden können. Während aber der Horrorfilm mit verborgenen Ängsten des Zuschauers spielt, die nur in der Ausnahmesituation des Kinobesuchs ausgelebt werden dürfen, liegen in unserem Bericht diese Ängste offen zutage und werden entsprechend ausgetragen. Auf der dritten Ereignisebene werden schließlich die Vorkehrungen beschrieben, die dazu geführt haben, daß das Schwabenland von den 'gottlosesten Räubern' "gesäubert" wurde - ein Ausdruck, der, auf Menschen bezogen, dem Wörterbuch des Unmenschen entstammt.
 

Nun zum zweiten Beispiel für die Maßlosigkeit und Aggressivität, mit der auch im 18. Jahrhundert noch von den "Zigeunern" gesprochen wird. In einer Polizeiordnung aus Culmbach von 1746 heißt es:

"und weil die zigeuner, als ein dem müssiggange ergebenes, unflätiges, religion- und gottes-dienst nicht achtendes unnützes gesindlein gemeiniglich vom stehlen und rauben profession machet, mithin von löblichen fränkischen creisses wegen der allgemeine schlus gefasset worden, solche leute als einen abscheu menschlicher societät in den creis-landen gar nicht mehr zu dulden".
 

Von diesem "Abscheu" ist es dann nicht mehr weit zum "Abschaum" und zur Terminologie des Unmenschen. Und manche Praktik, die im 18. Jahrhundert zur Behandlung der "unnützen, herrenlosen" Zigeuner erwogen wird, verweist auf die "Dialektik der Aufklärung" mit den von Horkheimer/Adorno beschriebenen Konsequenzen.(19) In der zweiten Auflage des von Georg Paul Hönn verfaßten Betrugs-Lexicons wird 1761 unter dem Stichwort "Ziegeuner" folgendes "Mittel" vorgeschlagen, um die 'betrügerischen Zigeuner' zu bekämpfen:

"ist das hinlänglichste, wann jede obrigkeit auf einen einbringenden ziegeuner ein namhafftes kopf-geld setzet, und hernach, wann ein creiß eine parthie beysammen hat, solche man entweder in wohlverwahrte festungen zum schantzen, oder über meer in plantagen und colonien bringen lasse."
 

Auf dem Buchumschlag zum Neudruck dieser Ausgabe von Hönns Betrugslexikon, der ca. 1968 in den Buchhandel kam, heißt es in launigem Ton:

"Und da ein Lexikon mit Z zu schließen pflegt, werden am Ende des umfangreichen Werkes die Schandtaten der Zauberer, Zigeuner und Zeitungsschreiber gebrandtmarkt und auch hier - wie bei allen anderen Betrügereien - Hinweise von Seiten des Autors gegeben, wie solchen Methoden am besten entgegenzuwirken sei."
 

Nach dem Geschilderten ist vielleicht deutlich geworden, daß es nicht angeht, die Quellen für sich sprechen zu lassen und im Erklärungsteil des zu schreibenden Artikels "Zigeuner" den Inhalt dieser Quellen kurz zu charakterisieren, weil dabei nur, oder noch einmal, ein 'Feindbild' gezeichnet würde ohne Distanzierung. Andererseits ist es aufgrund des besonderen Charakters des Deutschen Rechtswörterbuchs, das kein Sachwörterbuch ist, sondern von der Präsentation seiner Quellen lebt, problematisch, in der Erklärung Informationen auszubreiten, die nicht durch diese Quellen gedeckt sind. Der im Folgenden abgedruckte Probeartikel "Zigeuner" spiegelt etwas von dieser Ambivalenz wieder: er ist, gemessen an den Kriterien des Deutschen Rechtswörterbuchs, nicht 'sachlich' genug, da er Wertungen vornimmt und bei den Verfassern der gegen die "Zigeuner" gerichteten Verordnungen und anderen Verlautbarungen bestimmte Motive unterstellt; angesichts der Härte und Unbarmherzigkeit, die dem Leser in der überwiegenden Mehrheit der ausgebreiteten Quellen entgegenschlägt, mag mancher andererseits diese Erklärung als zu neutral oder nichtssagend empfinden.


Zum Entwurf eines Wortartikels "Zigeuner"

Zu den Internetseiten des Deutschen Rechtswörterbuchs


1. Zuletzt ist erschienen: Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache. Herausgegeben von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Band X Heft 1/2 (Notsache - opferbar), Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1997. Zur Geschichte des Deutschen Rechtswörterbuchs vgl. Ingrid Lemberg, Heino Speer, Bericht über das Deutsche Rechtswörterbuch, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Bd. 114, Wien-Köln-Weimar 1997, S. 679ff.

2. Vgl. den von K. Härter verfaßten Artikel "Zigeuner" in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hrsg. von Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann unter philolog. Mitarb. von Ruth Schmidt-Wiegand. Bd. V, Berlin 1998, Sp. 1699ff.

3. Vgl. den umfangreichen, besonders auch für die Etymologie wichtigen Artikel "Zigeuner". Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. XV, Leipzig 1956, Sp. 1257ff.

4. Vgl. aus jüngster Zeit: Wilhelm Rütten, "Lustig ist das Zigeunerleben", in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, a.a.O., S.233ff.

5. Georg Stephan Wiesand, Juristisches Hand-Buch. Hildburghausen 1762, S. 1298.

6. Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 62, Leipzig und Halle 1749, Sp. 520ff.

7. Vgl. Anm. 3.

8. Deutsches Wörterbuch, a.a.O. Sp. 1266.

9. Vgl. Martin Ruch, Zur Wissenschaftsgeschichte der deutschsprachigen "Zigeunerforschung" von den Anfängen bis 1900. Diss. Freiburg i.Br. 1986.

10. Zedler a.a.O. Sp. 525.

11. Zedler a.a.O. Sp. 522.

12. Zu dem Artikel in Zedlers Lexikon vgl. Iris Wigger,Ein eigenartiges Volk. Die Ethnisierung des Zigeunerstereotyps im Spiegel von Enzyklopädien und Lexika. In: Wulf D. Hund (Hg.), Zigeuner. Geschichte und Struktur einer rassistischen Konstruktion. Duisburg 1996, S. 38ff.

13. Die in den Anmerkungen nicht ausgewiesenen Quellenbelege finden sich auch in dem beigefügten Probeartikel "Zigeuner" zitiert und sind nach den Quellenverzeichnissen des Deutschen Rechtswörterbuchs umzulesen. Die im Deutschen Rechtswörterbuch übliche Kleinschreibung wurde beibehalten.

14. Mittelniederdeutsches Handwörterbuch, hrsg. von Agathe Lasch und Conrad Borchling, Bd. I, Neumünster 1956, Sp. 522.

15. Nach Ruch liegt es nahe, den Prozeß der Kriminalisierung der Zigeuner "im Rahmen einer Geldbeschaffungskampagne für den Türkenkrieg zu werten". Ruch, a.a.O. S. 52.

16. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. 2 Bde, Frankfurt/M. 1997.

17. Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte. Jahrgang IV., 1881, S. 44.

18. Deutsches Wörterbuch, Bd. IV 1,2, 1897, Sp. 3942ff.

19. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Amsterdam 1947.